Warum wir die Beschaffung endlich digitalisieren müssen
Die Unternehmensberatung Bain & Company schreibt es schwarz auf weiß: Der Einkauf ist der Kostentreiber schlechthin für Unternehmen. Durchschnittlich 43 Prozent der gesamten Unternehmensausgaben gehen für die Beschaffung externer Waren drauf. Doch erst mit der Coronakrise verstehen Unternehmer den tatsächlichen Wert des Beschaffungswesens. Wie können neue Technologien den Aufbau moderner und stabiler Lieferketten essentiell unterstützen?
Vor zwei Jahren eskalierte ein Streit zwischen Volkswagen und zwei Schlüssellieferanten. Ein Streit, bei dem der Automobilkonzern am kürzeren Hebel saß; denn die Zulieferer stellten kurzerhand ihre Lieferungen ein. Abhängig von den Just-in-Time-Lieferungen standen nur wenig später auch die Fließbänder im Wolfsburger Stammwerk des Automobilkonzerns still.
Laut der Wochenzeitung Die Zeit bedeutete der Produktionsstopp einen Umsatzverlust in dreistelliger Millionenhöhe – pro Woche. Trotz dieses immensen finanziellen Schadens ließ ein drastisches Umdenken bezüglich einer Erweiterung des Lieferantennetzwerks auf sich warten. Die eigentliche Erkenntnis ging nämlich unter:
Lieferketten sind kaum stabiler als ein Kartenhaus.
Und die Szenarien, welche diese Kartenhäuser böenartig in sich zusammenfallen lassen, sind mannigfaltig. Ganz gleich ob Differenzen mit Zulieferern, regionale Naturkatastrophen, Fabrikbrände, wirtschaftliche oder politische Krisen: Lieferketten müssen flexibler und Second Sources effektiver aufgebaut werden.
Nun nimmt die Coronapandemie die Lieferketten beinahe aller Unternehmen unter Beschuss. Egal ob multinationaler Konzern oder Mittelständler, ob Automobilhersteller oder Gießerei. Und in dem allgemeinen Wirrwarr um Lockdowns, Lieferengpässe und Produktionsstopps erkennen Unternehmen plötzlich die Bedeutung stabiler Lieferketten. Denn Lücken in den Lieferketten lassen sich einfach nicht mit einem Fingerschnipp austauschen oder stopfen. Bis ein neuer Lieferant gefunden ist, die Verträge geschlossen sind und die Produktion anlaufen kann, vergeht Zeit. Viel Zeit.
Doch wie bauen Procurement-Teams stabile und diverse Lieferketten auf?
Second Sources
Das Beispiel Volkswagen zeigt: Unternehmen aller Größen – vom Kleinunternehmer bis zum Automobilkonzern – sind oft abhängig von einigen wenigen Lieferanten. Fällt einer dieser Zulieferer aus, und dies muss kein strategischer A-Lieferant sein, bricht diese Kette. Firmen müssen zukünftig ihre Bedarfe auf mehrere Lieferanten verteilen und Second Sources, also Ersatzlieferanten, aufbauen. Idealerweise produzieren diese bereits kleinere Mengen für den Auftraggeber, sodass Werkzeuge und Know-how bereits bestehen und die Qualitätssicherung schon durchlaufen wurde. Im Notfall sind die Ersatzlieferanten dann sofort lieferfähig.
Das Verteilen des eigenen Bedarfs auf mehrere Schultern bedeutet, dass der Ausfall eines Zulieferers nicht so schwer ins Gewicht fällt. Möglicherweise können die anderen Quellen den Lieferausfall sogar vollkommen auffangen. Second Sources sorgen dafür, dass Alternativen, bildlich gesprochen, in den Startlöchern stehen.
Die Bedarfe global verteilen
Nicht minder wichtig ist die globale Verteilung der Lieferanten. Hotspots, etwa die Ballung vieler Automobilzulieferer in Wuhan oder der Sitz vieler Chip-Hersteller in der Region Fukushima vor der Kraftwerkskatastrophe schaden im regionalen Krisenfall der Lieferkette enorm. Selbstverständlich gibt es auch hier Limitierungen. So sitzen beispielsweise nunmal 90 Prozent aller Schraubenlieferanten in Taiwan.
Allerdings sind im Regelfall 50 Prozent oder mehr des Einkaufsportfolios global verteilbar und das Einzelrisiko ist somit minimierbar. Dass diese globalen Anbieter oft nicht einfach zu identifizieren sind, steht auf einem anderen Blatt.
Genau hier setzen jedoch neue Tools an und unterstützen Procurement-Teams mit Machine Learning und Künstlicher Intelligenz im anspruchsvollen Scouting.
Proaktives Scouting
Die globale Verteilung des eigenen Bedarfs auf mehrere Zulieferer und der Aufbau von Lieferanten-Netzwerken erfordern kontinuierliches und proaktives Scouting. Und hierfür müssen Unternehmen das eigene Beschaffungswesen neu aufstellen.
Zu oft wird der Einkauf als Dienstleistung gesehen. Ein reaktiver Prozess, welchen man bei Bedarf, etwa dem Aufbau einer neuen Produktlinie, aktiviert. Scouten die Unternehmen jedoch kontinuierlich weiter nach alternativen Lieferanten, haben sie ein breites Netzwerk, auf das sie in Krisenzeiten zurückkommen oder anhand dessen sie Preisdruck bei Verhandlungen mit Bestandslieferanten aufbauen können.
Durch den breiteren Lieferantenpool erhalten sie zudem Informationen über neue Produkte und Innovationen, die andernfalls unter dem Radar geflogen wären. Ganze Industriezweige können sich durch diesen Zugang zu neuem Wissen innovationskräftiger aufstellen.
Das Beschaffungswesen ist ein Nadelöhr
Das Problem: Proaktives Scouting, Second Sources, globale Verteilung der Bedarfe, dies ist alles einfacher gesagt als getan. Denn das Beschaffungswesen ist derzeit höchst manuell sowie mühselig, langwierig und intransparent. Die Suche nach neuen Lieferanten erfolgt häufig via Suchmaschinen wie Google, Ausstellerlisten auf Messen, über einige hochspezifischen Datenbanken oder das Who-is-Who der Zulieferer. Auch die besten Procurement-Teams stoßen dabei irgendwann an die Grenzen des menschlich Machbaren.
Für die Beantwortung der beiden elementaren Fragen des Einkaufs – kann der Zulieferer das liefern, was ich brauche, und ist er vertrauenswürdig – müssen Einkäufer unzählige Dokumente und Plattformen durchforsten. Sie recherchieren die Produktionskapazitäten, Lieferzeiten, Zertifizierungen oder den Kundenstamm der Unternehmen und durchforsten dafür TÜV-Datenbanken, Finanzdokumente, Zollbehörden. Dieser Prozess ist ressourcenintensiv und zeitaufwändig, das intensive Screening der potenziellen Lieferanten ist nicht skalierbar. Und so bleiben viele Lieferanten ungeprüft, die Lieferantennetzwerke dünn.
Und: Aufgrund der langwierigen und beschränkten Recherchemöglichkeiten tauchen viele Zulieferer gar nicht erst auf dem Radar der Procurement-Manager auf. Diverse passende Alternativen gehen in den Recherchen zwischen den bekannten Namen verloren oder werden wegen fremdsprachiger Suchbegriffe nicht gefunden.
Dieser Recherche-Marathon bindet ein Gros der Kapazitäten der Procurement-Teams.
Wie Technologie helfen kann
Glücklicherweise bestehen bereits die technologischen Möglichkeiten, um das Scouting und die Lieferketten zu modernisieren. Moderne Datenbanken durchsuchen das World Wide Web, Datenbanken von Drittanbietern wie Dun & Bradstreet sowie zahlreiche weitere Plattformen mittels Künstlicher Intelligenz nach detaillierten Informationen über unzählige Lieferanten aus aller Welt. Die gesammelten Datensätze über die Zulieferer aus allen Ecken und Enden der Welt werden in einer Datenbank konsolidiert und den Procurement-Teams zugänglich gemacht.
Mit einem Mal sind Lieferantendaten vergleichbar. Informationen aus Quellen in Mandarin oder Spanisch werden in den Lieferantenprofilen übersetzt und angeglichen. Jeder Lieferant ist hinsichtlich seiner Produktionskapazitäten, Zertifikate und seines Kundenstamms prüfbar. Einkäufer können nun die gesamten Lieferantendaten nach ihren spezifischen Bedürfnissen filtern. Die KI analysiert anhand dieser Bedürfnisse die Datenbank und erstellt eine spezifische Auswahl geeigneter Zulieferer. Und dies innerhalb von Tagen – nicht Monaten. Nicht nur im Krisenfall ein enormer Wettbewerbsvorteil.
Procurement-Teams haben die Möglichkeit, ganze Lieferanten-Landschaften zeitnah transparent zu machen, statt einen Großteil ihrer Ressourcen in die Recherche einiger weniger Partner zu investieren. Das Nadelöhr Beschaffung wird somit zu einem wichtigen Faktor für Unternehmen, Lieferketten stressresistenter zu machen und Produktionsausfälle – und somit signifikante Umsatzeinbußen – zu vermeiden.
Gleichermaßen können Unternehmen durch den neuen 360-Grad-Blick auf den weltweiten Zulieferer-Markt Bestands- und eventuelle Neu-Lieferanten benchmarken. Dies verbessert die Entscheidungsgrundlage und ermöglicht etwaige Verbesserungen an bereits existierenden Lieferketten. Ein Schritt, der lange überfällig war. Und mit den neuesten Technologien nun endlich umsetzbar gemacht wird.
Über den Autor
Gregor Stühler ist Mitgründer und Geschäftsführer des Unternehmens scoutbee, der führenden Plattform für die digitale Lieferantensuche. Große multinationale Konzerne wie Audi, Airbus, Siemens oder Bosch sowie 140 weitere Unternehmen nutzen bereits die Datenbank und die Künstliche Intelligenz des Unternehmens für ihr strategisches Beschaffungs- und Einkaufswesen.