Gescheitert – oder nur gescheiter?
In unserer Gesellschaft erhält jedes Scheitern medial mehr Aufmerksamkeit als ein Erfolg – mit fatalen Auswirkungen: Wir messen uns am Scheitern anderer … nicht zu scheitern wird so zum Ziel, nicht mehr der eigene Erfolg.
Von George Bernard Shaw stammt eine Weisheit, die viel über unsere Gesellschaft aussagt:
“Eines der traurigsten Dinge im Leben ist, dass ein Mensch viele gute Taten tun muss, um zu beweisen, dass er tüchtig ist, aber nur einen Fehler zu begehen braucht, um zu beweisen, dass er nichts taugt.”
Überlegen Sie selbst: Wann haben Sie zum letzten Mal einer Mitarbeiterin, einem Kollegen oder Geschäftspartner von Herzen zu seinem Handeln gratuliert? Wann haben Sie zuletzt einen Kollegen, eine Kollegin (zumindest innerlich) verflucht, weil er oder sie vermeintlich Mist gebaut hat? Und wann haben Sie sich über das Scheitern eines anderen gefreut, weil es gerade passend kam, um die eigenen Schwächen vergessen zu machen?
Es ist eine traurige Tatsache, dass in unserer Gesellschaft jemand, der Gutes tut und auf diese Weise für andere und sich erfolgreich wirkt, weniger Aufmerksamkeit erhält als jemand, der einen Fehler begeht oder in seinem Tun scheitert. Gern lassen wir uns vom Scheitern anderer von unserer eigenen misslichen Lage ablenken und nützen jede Gelegenheit, unser Selbstwertgefühl dadurch zu stärken.
Dabei vergessen wir gerne, dass wir dabei immer nur einen Ausschnitt sehen. Wir blenden gerne aus, dass es sich nie um punktuelle Fehler-Ereignisse handelt, sondern eine individuelle Entwicklung dahinter steht. Der Betroffene wird auf seinen Fehler und sein Scheitern reduziert und “zum Abschuss freigegeben”, ohne dass wir die Gründe hinterfragen.
Dabei wäre es wichtig, den Blick auf das Gesamte zu lenken, auf Ursachen und Wirkungen. Nur so können wir aus Erfahrungen lernen. Aber das erfordert die Bereitschaft, sich auf Menschen einzulassen und ihre Beweggründe zu hinterfragen. Es erfordert ein gewisses Maß an Empathie und sozialer und emotionaler Intelligenz und nicht zuletzt braucht es die Fähigkeit zur Selbstkritik und zu einer reflektierten Haltung gegenüber eigenen Fehlern.
Da ist es leichter, ebenfalls mit dem Finger auf den Betroffenen zu zeigen – und die eigenen Bemühungen nur noch darauf zu richten, nicht selbst zu scheitern. Das aber führt dazu, dass nicht mehr die Zielerreichung im Mittelpunkt der Bemühungen steht, sondern das Vermeiden des potenziellen Scheiterns. Risiken werden gar nicht mehr eingegangen, Probleme möglichst unter den Teppich gekehrt. Glücklich macht solch ein Vorgehen allerdings nicht!
Daher lohnt es sich gleich doppelt, sich mit anderen zu beschäftigen und Prozesse und ihr Zustandekommen zu hinterfragen. So lernt man Menschen besser kennen und kann sich von Urteilen und Behauptungen anderer unabhängig machen. Auch für das eigene Selbstverständnis und Selbstwertgefühl ist diese Haltung wichtig. Und man findet vielleicht gemeinsam Lösungen und erkennt, dass Scheitern und Fehler nun mal Teil dessen sind, was als Lernen lebenslang von uns gefordert ist.